Alle direkten und indirekten Elektrizitätsgesellschaften
Holger Lösch
Position: Stellvertretender Geschäftsführer
- Firma: Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI)
tec.news: Die Industrie ist einer der Schlüsselsektoren der AES. Welche Bedeutung haben Elektrifizierung und Vernetzung für die Industrie und den Wirtschaftsstandort Deutschland?
Holger Lösch: Im Zuge der Dekarbonisierung ist die Elektrifizierung für viele Unternehmen eine Strategie - und damit eine Chance und eine Herausforderung zugleich. Aber wir brauchen auch einen schrittweisen, molekularen Umschwung. Vielleicht wäre es besser, von einer "All Direct and Indirect Electric Society" zu sprechen - und wir sollten auch die Option des Kohlenstoffmanagements nicht außer Acht lassen. Generell hoffe ich auf eine rasche Erweiterung der Möglichkeiten zur CO-2-Reduktion. Zweifelsohne wird es einen deutlich höheren Elektrifizierungsgrad geben, und dies wird in vielen Anwendungen die Methode der Wahl sein. Es muss uns jedoch gelingen, die Verfügbarkeit, die Stabilität und letztlich die wirtschaftliche Lebensfähigkeit sowohl der Elektronen als auch der Moleküle zu gewährleisten, wenn wir weltweit wettbewerbsfähig bleiben wollen.
tec.news: Was bedeutet die Elektrifizierung für die Industrie?
Holger Lösch: Es geht immer darum, unserer Industrie die Weiterentwicklung in eine klimaneutrale Zukunft zu ermöglichen und gleichzeitig der deutschen und europäischen Industrie die Möglichkeit zu eröffnen, neue Technologien und Märkte zu entwickeln und zu erobern.
Die direkte Elektrifizierung der gesamten Industrie ist technologisch und wirtschaftlich nicht überall und sofort möglich. Wo sie sinnvoll eingesetzt werden kann, führt sie zu raschen Fortschritten bei Innovation und Effizienzsteigerung. Ich sehe für die Industrie, die diese Technologien entwickelt, große Chancen im internationalen Wettbewerb um die besten und effizientesten Umwandlungstechnologien.
Den größten Schub für die Elektrifizierung werden wir bei der Mobilität erleben. Der entscheidende Technologiepfad ist dabei die Elektrifizierung von Schiene und Straße: Lkw werden auch in Zukunft zunehmend elektrisch fahren, wir werden einen immer größeren Anteil an Elektrofahrzeugen haben und wir werden die Schienennetze weiter elektrifizieren. Außerdem geht es um Wasserstoff - mit der für mich noch offenen Frage: "Welche Rolle werden synthetische Kraftstoffe spielen?".
Aus Klimasicht wäre es effizienter, die große Zahl der Verbrennungsmotoren parallel zum Elektrohochlauf durch CO2-reduzierte oder klimaneutrale Kraftstoffe schnell klimaneutral zu stellen. Aber das ist eine politische Debatte. Neben der Energieeffizienz ist die Elektrifizierung in vielen Bereichen die Methode der Wahl für Gebäude. In diesem Zusammenhang wird die Wärmepumpe ein zentrales Element bei der Dekarbonisierung des Wärmebedarfs sein, aber nicht das einzige. Es ist absehbar, dass grüne Gase auch im Jahr 2045 noch eine Rolle bei Teilen der Wärmeversorgung spielen werden, wenn auch keine dominante. Aber es wird sicherlich Bereiche geben, in denen Moleküle unverzichtbar sind.
tec.news: Wie lässt sich Systemeffizienz erreichen? Wie sehen Sie den Infrastruktursektor zum jetzigen Zeitpunkt?
Holger Lösch: Ich halte nichts davon, Vorhersagen darüber zu machen, wie unser System im Jahr 2050 aussehen wird. Denn für mich ist das ein Widerspruch: Einerseits sprechen wir über die größte Herausforderung, vor der die Menschheit je gestanden hat, und betonen den umfassendsten Wandel, den wir vollziehen müssen. Auf der anderen Seite verengen wir die Technologiepfade massiv - für mich ein totaler Widerspruch. Wenn das die größte Herausforderung ist, dann muss ich alles mobilisieren - Innovation und Investitionen. Und ich darf keine Verbote für Innovation und Zukunft aussprechen. Das ist es, was mich an der aktuellen Debatte stört. Wenn es uns nicht gelingt, die Transformation auf einen wettbewerbsfähigen Pfad zu bringen, werden wir politisch, wirtschaftlich, sozial und ökologisch scheitern. Wir brauchen die intelligenteste Mischung aus Technologien und Investitionsanreizen, um unsere Ziele zu erreichen - und die haben wir bisher noch nicht gefunden. Es wäre daher unlogisch, heute eine apodiktische Aussage über die Technologie und Infrastruktur in 30 Jahren zu treffen.
tec.news: Wie schnell wird es möglich sein, eine CO2-freie Produktion zu realisieren? Was sind die konkreten Ziele?
Holger Lösch: Die Unternehmen müssen sich viele Fragen zu ihrem Scope 1, 2 und 3 stellen. Es ist davon auszugehen, dass die CO2-Preise tendenziell steigen werden und dass die Anforderungen von Investoren und Banken an die Transformation des jeweiligen Unternehmens und den Carbon Footprint der jeweiligen Produkte zunehmen werden. Aber über die klimaneutrale Transformation hinaus müssen die Unternehmen auch über ihre strategischen Pläne, Zukunftsmärkte und technologischen Entwicklungswege nachdenken. Dabei spielen viele Faktoren eine Rolle: die Verfügbarkeit und Wirtschaftlichkeit von CO2-neutralen Energieträgern und Rohstoffen, das Vorhandensein der entsprechenden Infrastruktur, aber auch zukünftige Kundenerwartungen und Wettbewerbsstrategien. All dies gilt es abzuwägen, wenn weitreichende Entscheidungen für die Zukunft getroffen werden. Im Grunde genommen ist es jedoch offensichtlich, dass die Dinge auf allen Ebenen einfach zu langsam vorankommen.
tec.news: Der BDI repräsentiert die unterschiedlichsten Perspektiven der Industrie. Wie bringen Sie die Anforderungen dieser Positionen unter einen Hut?
Holger Lösch: Aufgabe der Verbände ist es, die Notwendigkeit, über zukünftige Entwicklungen nachzudenken, zu unterstützen, aber auch kommunikationsfähig zu machen - zum Beispiel durch Studien, die sich damit beschäftigen, wie Technologiepfade aussehen könnten. Die Verbände geben Impulse und entwickeln gemeinsam mit Unternehmen Ideen, wie politische und gesellschaftliche Ziele wirtschaftlich sinnvoll umgesetzt werden können. Gleichzeitig muss aber die Wettbewerbsfähigkeit in allen Bereichen gewährleistet sein. Daher muss das Gesamtsystem sinnvoll ausbalanciert sein. Zu wenig Ehrgeiz ist genauso schädlich wie zu viel Ehrgeiz. Genauso verhält es sich mit den Zielen der Mitarbeiter: Sie sollten Anforderungen stellen, aber erreichbar sein, sonst kommt es zu Frustration und Resignation. Für die Industrie bedeutet dies, dass der Wandel für alle, die ihn wollen, realistisch machbar sein muss und gleichzeitig genügend starke Anreize für Innovation und Investitionen geschaffen werden müssen.
tec.news: Die AES zeichnet sich durch einen ganzheitlichen Ansatz aus: Die Sektorkopplung berücksichtigt nicht nur die Erzeugung, sondern auch die Verteilung und den Verbrauch von Energie. Wie arbeitet die Industrie mit dem Infrastruktur- und Energiesektor zusammen?
Holger Lösch: Bei BDI schauen wir in alle Sektoren. Unsere Studien zu den Klimapfaden haben alle vier Sektoren in die Betrachtung einbezogen. Wir müssen möglichst effiziente Lösungen in den untrennbar miteinander verbundenen Bereichen Energie, Industrie, Gebäude und Mobilität finden. Dies kennzeichnet und bestimmt die Idee der Sektorkopplung. Ich sehe hier noch ein großes Entwicklungspotenzial. Ähnlich wie bei der Kreislaufwirtschaft wird die Sektorkopplung oft in den höchsten Tönen gelobt, aber es mangelt an der konkreten Umsetzung. Eine klimaneutrale Gesellschaft wird viel zirkulärer und integrierter sein müssen als die lineare Welt von heute. Dies kann auch zu Interessenkonflikten in der Industrie führen. Was zählt, ist die Bereitschaft zur Kommunikation und zum Dialog, um den Politikern letztlich einen Weg aufzuzeigen, der das Gesamtsystem so effizient wie möglich entwickelt.
tec.news: Wie treibt der BDI die Branchenkopplung voran und wie sieht die Zusammenarbeit mit anderen Verbänden wie dem ZVEI aus?
Holger Lösch: Der ZVEI ist eine der wichtigsten Mitgliedsorganisationen des BDI. Sie ist für uns ein wichtiger Partner, ein wichtiger Wegbereiter für die Energiewende, sowohl was die direkte als auch die indirekte Elektrifizierung betrifft. Wir sind als Verbände aufgerufen, gemeinsam abzuwägen, was letztlich im übergeordneten Interesse der Wirtschaft in Deutschland und Europa ist. Gelegentlich wird die BDI auch als Moderatorin eingesetzt.
tec.news: Wie sieht der BDI die Probleme für die Industrie weltweit?
Holger Lösch: Wir wollen die gesetzten Klimaziele erreichen - in unserem eigenen Land und in Europa. Das bedeutet, dass wir Möglichkeiten und Wege brauchen, um unsere bestehenden Industrien in Zukunft klimaneutral zu stellen. Der Wandel soll auch dazu beitragen, dass wir Produkte herstellen, die weltweit als vorbildlich gelten und neue Märkte für neue Technologien - und damit neue Wachstumspotenziale - erschließen.
tec.News: Die Industrie ist sowohl Anbieter als auch Nutzer der Sektorkopplung im Rahmen des AES. Welche Chancen und Risiken sind abschließend aus Sicht der Branche zu berücksichtigen?
Holger Lösch: Wir brauchen ehrgeizige Ziele, die auch realisierbar sind. Wir brauchen Schutz vor ungleichen Ambitionen auf den globalen Märkten, denn wir können nicht zulassen, dass unsere Konkurrenten weiterhin ungehindert die falschen Dinge tun, während wir uns bemühen, die richtigen Dinge zu tun.
Daher muss sich die Politik vor allem auf die Fragen konzentrieren: Wie können wir den Wandel widerstandsfähig und wettbewerbsfähig gestalten? Wie schaffen wir ein ausgewogenes System von Anreizen für die Milliarden und Billionen von zusätzlichen Investitionen, die erforderlich sind? Eine zukünftige neue EU-Kommission und eine mögliche nächste deutsche Regierung werden ein sehr großes Spielfeld vor sich haben.
gez. Detlef Sieverdingbeck
Position: Zentralbereichsleiter Unternehmenskommunikation & Branding
- Abteilung: CCB
- Firma: HARTING Stiftung & Co. KG