Verwaltungsschale und Digital Twin: zukünftig signifikante Elemente für den Maschinenbau
Dr. Volker Franke ist Geschäftsführer bei HARTING Applied Technologies, dem Geschäftsbereich für Werkzeug- und Sondermaschinenbau. Dr. Franke und sein Team sind bei HARTING potentielle Anwender der Verwaltungsschale bzw. des digitalen Zwillings: der Digital Twin von verschiedenen Komponenten wird verwendet, um daraus einen höheren digitalen Zwilling von Maschinen und Anlagen zu generieren. Mit tec.news sprach er über Praxiserfahrungen und Zukunftsperspektiven.
tec.news: Herr Dr. Franke, welche Rolle nehmen Sie als Nutzer des digitalen Zwillings ein und welchen Herausforderungen begegnen Sie?
Dr. V. Franke: Hier gilt es zunächst zu trennen zwischen einerseits dem eigentlichen Engineering-Prozess für Maschinen und Anlagen und andererseits der Anwendungsphase eines neu entstandenen Produkts. Beim Engineering gibt es verschiedene Herausforderungen: die Komplexität der Lösungen nimmt zu, da beispielsweise immer mehr Teilsysteme in eine Maschine integriert werden müssen – Prüfsysteme und Anbindungen an Traceability-Systeme, Anwendungen zur Bereitstellung und Verarbeitung von Energiedaten oder auch zukünftig Predictive Maintenance Ansätze.
tec.news: Die Welt des Maschinenbaus ist komplexer geworden?
Dr. V. Franke: Oh ja, das ist sie. Es halten mehr und mehr IT-Systeme Einzug, die bereits zu Beginn des Engineering-Prozesses berücksichtigt werden müssen. Gleichzeitig müssen wir uns der Situation stellen, dass die Spezifikationen für das zu lösende Problem nicht eindeutig beschrieben sind und stattdessen erst im Laufe der Zeit entstehen. Wir haben es hier also mit einer großen Portion an Agilität im Entwicklungsprozess zu tun. Darüber hinaus haben wir sowohl die Kompetenzen als auch die Verfügbarkeit von Entwicklern zu berücksichtigen. Das bedeutet: Es wird neben der Verfügbarkeit von Personal im Allgemeinen immer schwieriger diejenigen Menschen zu finden, die die richtigen Fähigkeiten mitbringen, um sich mit solch komplexen Aufgaben auseinanderzusetzen.
tec.news: Wie stellen Sie sich der Herausforderung, den Engineering-Prozess zu automatisieren?
Dr. V. Franke: Wir setzen uns sehr intensiv mit dem Thema „Systems Engineering“ auseinander. Es reicht heute nicht mehr aus, die Komplexität aus mechanischer oder aus elektrischer Sicht zu beleuchten. Vielmehr muss man sich die Perspektive aus Systemsicht aneignen. Hier stellt einem das Systems Engineering Methoden und Artefakte zur Verfügung, die helfen, das System zu definieren, sukzessive zu entwickeln und am Ende in seinen Funktionen zu verifizieren. Und genau diese Artefakte helfen dann wiederum dabei, agil zu bleiben, denn mit ihnen kann ich in einzelnen Stufen weiterentwickeln. Im Hinblick auf Automatisierung kommen schließlich der digitale Zwilling und die Verwaltungsschale ins Spiel. Die Verwaltungsschale beschreibt eine Komponente nach einem standardisierten Verfahren so, dass ich die Anforderungen aus meiner Lösung mit den angebotenen Fähigkeiten der Komponente in Übereinstimmung bringen und damit zum Beispiel automatisch selektieren kann.
tec.news: Was erwarten Sie von der Verwaltungsschale eines Steckverbinders?
Dr. V. Franke: Im Maschinenbau denken wir nicht als Erstes an den Steckverbinder, sondern beispielsweise an eine elektrische Achse, die aus einer Lineareinheit, einem Motor und einem Frequenzumrichter besteht. Diese müssen hinsichtlich ihrer Leistungsparameter so ausgelegt sein, dass sie beispielsweise die Aufgabe erfüllen, ein Gewicht von zehn Kilo innerhalb von 0,5 Sekunden um 500 Millimeter zu bewegen. Daraus ergibt sich wiederum die Dimensionierung der Komponenten, die benötigt werden. An dieser Stelle spielt dann auch der Steckverbinder eine Rolle, denn er bietet die Funktionalität, diesen Motor anschließen zu können. Meine Anforderung an die Verwaltungsschale eines Steckverbinders liegt in der Darlegung der Leistungsparameter: welchen Strom kann er übertagen, befähigt er zur internetbasierten Kommunikation oder hat er ein spezielles Format wie Single-Pair-Ethernet etc.? Ich erwarte, dass der Digital Twin mir Informationen gibt, um ihn in ein Schaltplan-Design einzubinden. Ich verlange aber auch, dass er mir Informationen gibt, um ihn im mechanischen Design einfach zu integrieren. Und ich wünsche mir auch, dass er zum Beispiel Installations- und Betriebsanleitung mitliefert, oder er mir Angaben über den mit der Herstellung verbundenen CO2 Footprint gibt. Kurz gesagt: Meine Anforderungen an den Digital Twin beziehen sich in erster Linie auf das Engineering der Maschine. Die Verwaltungsschale kann aber auch wichtige Informationen für die Nutzungsphase liefern. Zum Beispiel Metadaten zur Einbindung der einzelnen Komponenten in Energiemanagementsysteme oder Materialdaten zur Entsorgung.
tec.news: Ist der Steckverbinder für Sie eine Systemkomponente?
Dr. V. Franke: Nein, ich sehe ihn weiterhin als Connectivity-Komponente, die dann in die Verwaltungsschale einer mechatronischen Komponente oder eines Modules eingefügt wird, auch wenn der Steckverbinder mit zusätzlicher Funktionalität ausgestattet wird. Nehmen wir an, ich habe die Anforderung der Hochverfügbarkeit meiner Anwendung umzusetzen und ich möchte dafür eine Temperatur-, eine Vibrations- und eine Steckzyklusüberwachung im Steckverbinder nutzen. Da dieser eben nicht ungeplant ausfallen darf. Solche Funktionen müssen in der Verwaltungsschale abgebildet werden, damit ich die Komponente entsprechend auswählen kann. Einen Steckverbinder ohne Verwaltungsschale würde ich im Engineeringprozess gar nicht mehr wiederfinden.
Der Endanwender wird allerdings nicht den Zustand des Steckverbinders sehen, sondern einen aggregierten, konsolidierten Zustand, beispielsweise für ein Maschinenmodul. Bei dem Schalenmodell kann sich von Schale zu Schale der Gesamtcharakter ändern. Dies ist im Prinzip vergleichbar mit einer realen Konstruktion: Wenn ich eine Maschine zusammenbaue, sehe ich auch nicht mehr primär die Schraube, sondern eher die gesamte Maschine und deren Funktion – vergleichbar mit einem Ölgemälde, bei dem die einzelnen Striche erst das Gesamtbild ergeben.
tec.news: Wo sehen Sie den größten Nutzen des digitalen Zwillings?
Dr. V. Franke: Im Engineering kann ich die Prozesse deutlich effizienter und flexibler gestalten, die Anforderungen des Kunden sozusagen in Echtzeit anpassen. Auf der Seite der Programmierung ist ebenso Effizienz bis hin zu Automatisierung maßgeblich, um den potenziellen Datenstrom unter der Datenvielfalt beherrschbar zu machen. Im Hinblick auf Lifecycle Services ist es zukünftig möglich, mehr Service anzubieten, gleichzeitig aber den Aufwand dieses Angebots massiv zu reduzieren.