Die Elektrifizierung ist eine Grundvoraussetzung
tec.news: Wie definieren Sie die All Electric Society?
W. Weber: Die All Electric Society ist eine Vision, in der die Energieversorgung einer Gesellschaft weitgehend auf Basis von erneuerbar erzeugter elektrischer Energie erfolgt. Damit ist die All Electric Society das Energieeffizienzszenario einer klimaneutralen Gesellschaft schlechthin.
Nur mit entsprechender und zunehmender Elektrifizierung wird eine klimaneutrale Welt gelingen, denn durch diese Energieversorgung können wir auf Verbrennungsvorgänge verzichten. Verbrennungsvorgänge sind thermodynamisch das große Effizienzproblem, wenn sie zur Erzeugung von elektrischer oder mechanischer Energie bzw. Arbeit eingesetzt werden. Am deutlichsten wird dies beim Autofahren. Nur ein Drittel der eingesetzten Energie eines Verbrenners wird in Bewegung umgesetzt, der Rest als Abwärme „verschwendet“. Beim vollelektrischen Fahren sieht es anders aus: Hier wird die eingesetzte Energie zu vier Fünftel für Bewegung genutzt.
tec.news: Welche Bereiche schließt die All Electric Society mit ein?
W. Weber: Hier ist zum einen die gesamte Energieversorgung zu nennen sowie – durch die Sektorenkopplung – alle Elemente und Komponenten, die sicherstellen, dass die Sektoren wie etwa Gebäude, Mobilität und Industrie miteinander kommunizieren können. Zum anderen gilt es aber auch, für diese Sektorenkopplung Daten bereitzustellen. Und dazu benötigen wir Steckverbinder und Kabelsysteme.
tec.news: Was bedeutet die All Electric Society für die Nachhaltigkeit?
W. Weber: Wenn wir eine Klimaneutralität erreichen wollen, brauchen wir eine CO2-arme Energieversorgung. Für den reinen Energiebedarf der Gesellschaft müssen wir erhebliche Effizienzgewinne realisieren. Deswegen ist die Elektrifizierung eine Grundvoraussetzung. Darüber hinaus spielt hinsichtlich der Nachhaltigkeit auch die Circular Economy eine wichtige Rolle. Wir werden bei den stofflichen Kreisläufen dafür Sorge tragen, dass die hergestellten Produkte auch wieder in den Kreislauf zurückgebracht werden können. Dies bedeutet auch: Wenn wir als Gesellschaft zirkulär werden wollen, müssen wir entlang der Wertschöpfungskette aller Produkte Daten weitergegeben, die Aufschluss darüber geben, aus welchen Materialien und in welchen Prozessen produziert wurde. Nachhaltigkeit ist also mehr als nur die richtige Energieerzeugung – Sektorenkopplung, Digitalisierung, Daten – und Informationsweitergabe entlang der Wertschöpfungskette gehören ebenso dazu.
tec.news: Welche Konsequenzen hat die All Electric Society für die Zukunft?
W. Weber: Es muss eine grundlegende Bereitschaft der Gesellschaft vorherrschen, diesen Transformationsprozess anzugehen. Dabei gilt es natürlich, viele offene Fragen zu beantworten: Inwieweit kann diese Transformation finanziert werden? Wie trägt ein regulatorischer Rahmen dazu bei, dass sich diese Investition dann für die privaten bzw. unternehmerischen Investoren rechnen? Es braucht letztendlich einen gesellschaftlichen Konsens, diesen Weg zu gehen. Ebenso benötigen wir auch ein gemeinsames Verständnis über die Datenweitergabe: Welche Daten bekommen welchen Wert?
tec.news: Welche neuen Technologien sind für eine All Electric Society notwendig?
W. Weber: Prinzipiell müssten wir jeden einzelnen Prozess und jede einzelne Industrie durchdeklinieren, bei denen heute fossile Energie eingesetzt werden. Angefangen in der Chemie-Industrie, in der wir moderne und effiziente Elektrolyseverfahren benötigen, bis hin zu elektrischen Brennöfen für die Schmelzprozesse in der Glasindustrie. In der Stahlindustrie etwa müssen wir die Direktreduktion mit Wasserstoff anstatt mit Kohle vorantreiben. Im Prinzip lässt sich jeder Energiebedarf elektrifizieren. Wir haben auch eine Initiative für Gleichstrom ins Leben gerufen, um noch weitere Effizienzpotenziale auszuschöpfen. Dabei wollen wir das Thema Rekuperation – also die Rückgewinnung von Energie – weiter anstoßen: Beim Elektroauto bereits etabliert, wollen wir es beispielsweise auf Roboterprozesse, Fahrstühle und andere Einsätze von Elektromotoren ausweiten. Um dies alles realisieren zu können, ist natürlich auch eine entsprechende Infrastruktur notwendig. Und eben immer dabei: die Digitalisierung.
tec.news: Wie stark steigt der Strombedarf, wenn wir die Gesellschaft elektrifizieren?
W. Weber: Wir haben heute in Deutschland einen Strombedarf von circa 550 Terawattstunden sowie einen Primär-Energiebedarf von insgesamt 3.500 Terawattstunden. Addieren wir einen gewissen Energie-Mehrverbrauch hinzu – schließlich steigt der Energiebedarf jedes Einzelnen von uns für mehr Mobilität etc. – liegen wir dann bald bei 4.500 Terawattstunden. In unterschiedlichen Studien haben wir ermittelt, dass wir den Energiebedarf der Gesellschaft durch eine weitgehende Elektrifizierung auf 1.200 Terawattstunden senken können. Das bedeutet aber auch: Der Strombedarf wird sich um den Faktor zwei bis zweieinhalb vergrößern. Heißt wiederum: Die Gesellschaft muss den Ausbau der Erneuerbaren sowie der notwendigen Infrastruktur mittragen und die Politik den richtigen Rahmen setzen. Beispielsweise müssen sich für die Netzbetreiber, die vor riesigen Investitionen stehen, diese auch rechnen, ohne die Netzentgelte und damit den Strompreis immer weiter ansteigen lassen.
tec.news: Was sind die nächsten Schritte der Digitalisierung?
W. Weber: Entscheidend ist an dieser Stelle, dass wir den Digitalen Zwilling und die sogenannte „Verwaltungsschale“ zum Standard machen. Diesen brauchen wir für die Datenweitergabe, z. B. entlang der Energie-Wertschöpfungskette. Wenn wir über Sektorenkopplung sprechen wollen, brauchen wir eine möglichst gleiche Semantik.
Es gilt, jetzt die Infrastruktur und die Standardformate bereitzustellen, um den Datenaustausch möglichst einfach, günstig und skalierbar zu machen. Dafür engagieren wir uns in Projekten wie Manufacturing-X. Aber die spannende Frage ist: Unter welchen Bedingungen sind die einzelnen Partner bereit, ihre Daten zu teilen? Das ist meiner Ansicht nach die Königsdisziplin.
tec.news: Wie beschleunigen wir den zwingend erforderlichen Daten- und Informationsaustausch, ohne den die All Electric Society und die Sektorenkopplung nicht funktionieren werden?
W. Weber: Wenn wir erst einmal anfangen, Daten zusammenzutragen, und die ersten Geschäftsmodelle mit Apps auf Basis dieser industriellen Daten entstehen, dann schaffen es die Unternehmen auch, faire Allokationen der Vorteile zu entwickeln. Die erfolgreichsten Transformationsprozesse der Gesellschaft sind in den zurückliegenden 200 Jahren auf die Industrie zurückzuführen. Insofern traue ich ihr auch heute die schnelleren Lösungen zu, als wenn dies durch einen moderierten Prozess auf politischer Ebene geschieht. Da bin ich optimistisch! Wir müssen indes die Ärmel hochkrempeln und die notwendige Dateninfrastruktur und die passenden Datenstandards bereitstellen. Dann werden wir schnell erste Kooperationen für den intensivierten Datenaustausch sehen, die für alle beteiligten Partner von Vorteil sind.
tec.news: Welche volkswirtschaftliche Bedeutung hat die All Electric Society für Deutschland und Europa?
W. Weber: Zweifelsfrei eine hohe. Aber um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Wir bleiben Teil einer offenen Gesellschaft. Deshalbgehört etwa auch importierter grüner Wasserstoff für uns zur All Electric Society selbstverständlich dazu. Ebenso andere Rohstoffe. Überhaupt sind wir beim „All“ nicht apodiktisch. Jedes Prozent mehr Elektrifizierung bringt uns den Klima- und Effizienzzielen näher. Und schon gar nicht stehen wir für Abgrenzung oder Autarkie. Dennoch wollen wir die gigantischen volkswirtschaftlichen Chancen der Elektrifizierung und Digitalisierung für unser Land und Europa bestmöglich ausschöpfen. Wir wissen, die vor uns liegende Transformation wird mit hohen Aufwänden, technologisch, politisch und nicht zuletzt gesellschaftlich, verbunden sein. Doch wenn wir es schlau angehen, zahlt es sich aus: volkswirtschaftlich und gesellschaftlich. Und eben nicht zuletzt fürs Klima.