„Alles, was elektrisch ist, muss auch vernetzt sein“
Vimal Mahendru will als Vizepräsident der Internationalen Elektrotechnischen Kommission die All Electric Society auch auf der Normungsseite vorantreiben. Unterschiedliche regionale Voraussetzungen sind dabei herausfordernd, führen aber auch zu Lösungen, die überregional nachhaltig wirken.
tec.news: Ist die "All Electric Society" (AES) ein ganzheitlicher Ansatz, der alle Sektoren einschließt?
Vimal Mahendru: Sie sprechen von einer rein elektrischen Gesellschaft. Meiner Meinung nach muss alles, was elektrisch ist, auch vernetzt sein. Das ist die grundlegende Realität des 21. Jahrhunderts. Ich würde die AES gerne als "All Electric and Connected Society – AECS" bezeichnen. Es gibt heute so viele Daten um uns herum. Eine Fülle an Informationen und somit wertvoll für die Schaffung einer besseren Gesellschaft.
tec.news: Welche Rolle spielt hierbei die Internationale Elektrotechnische Kommission (IEC), der Sie vorstehen?
Vimal Mahendru: Das IEC Normungsgremium arbeitet federführend an der Normung in diesem Bereich. Das ist auch deshalb sinnvoll, weil heute Anwendungsfälle elektrifiziert werden, die traditionell nicht dazugehörten. Das betrifft zum Beispiel die Mobilität, die nicht nur den Straßenverkehr umfasst, sondern auch den Luftverkehr und die Schifffahrt. Und auch hier ist es nicht nur die Elektrifizierung, sondern auch die Konnektivität, die einen solchen Übergang überhaupt erst möglich macht.
tec.news: Und wie müssen die Quellen der Elektrifizierung aussehen?
Vimal Mahendru: Ich komme aus Indien, wo knapp zwei Drittel an Elektrizität aus fossilen Brennstoffen gewonnen werden. Wir haben erkannt, dass es nachhaltiger werden muss. Und es ist sicherer, Elektronen, statt fossile Brennstoffe zu transportieren.
tec.news: Muss beim Thema Stromversorgung das ganze System betrachtet werden?
Vimal Mahendru: Wenn einzig die Mikrokomponenten der gesamten Stromversorgungskette betrachtet werden, lässt sich auch nur ein geringer Teil der Effizienz erreichen. Wirklich effizienter wird es, wenn man die gesamte Kette betrachtet, d. h. die Systemeffizienz, anstatt die einzelnen Komponenten um ihre eigene lokale Effizienz kämpfen zu lassen.
tec.news: Die IEC als globale Normungsorganisation hat die globale Bedeutung der "All Electric Society" erkannt und die Vision der "All Electric and Connected Society" entwickelt. Was sind die Rahmenbedingungen und die erwarteten Auswirkungen dieser Vision?
Vimal Mahendru: Ich spreche lieber von Grundlagen. Stellen Sie sich das Leben auf der Erde wie eine dreistöckige Hochzeitstorte vor: Die unterste ist die größte Schicht. Und das ist unsere Erde, das Ökosystem mit Umwelt, Luft, Wasser und Leben. Die Gesellschaft ist die zweite Schicht der Torte. Und oben auf der kleinsten Schicht ist der Wirtschaftskreislauf, in dem auch HARTING arbeitet. Hier werden Werte geschaffen, die Gesellschaft beeinflusst und hier findet Entwicklung statt.
tec.news: Wie beeinflussen sich die Ebenen?
Vimal Mahendru: Wir müssen eine Harmonie zwischen diesen drei Ebenen aufbauen. Nur dann gibt es eine ganzheitliche Entwicklung. Die Top-Ebene, wo Unternehmen wie HARTING sich weiter entwickeln wollen, braucht eine sich weiter entwickelnde Gesellschaft. Und damit die Gesellschaft sich weiterentwickelt, muss der Planet gesund sein. Wenn ich mir eine vollständig elektrische und vernetzte Gesellschaft vorstelle, dann verbindet sie die drei Ebenen dieses Kuchens nahtlos miteinander. Die dafür nötigen Elektronen stammen aus der Basisschicht. Wie wir sie bekommen, also ob wir die Erde dafür verschmutzen oder materielle Ressourcen verbrauchen, hat Auswirkungen auf die Gesellschaft. Und was auch immer mit der Gesellschaft geschieht, ob gut oder schlecht, wird sich auf die oberste Ebene auswirken, nämlich die Wirtschaft.
tec.news: Wie ist der Begriff "All Electric Society" global positioniert? Welche regionalen Unterschiede können Sie feststellen?
Vimal Mahendru: Es gibt sehr viele regionale Unterschiede. Ich möchte Indien beispielhaft anführen. Das Land hat das viertgrößte Stromnetz der Welt. Und doch ist der Pro-Kopf-Stromverbrauch in Indien verschwindend gering. Er beträgt nur 1.100 Kilowattstunden pro Person und Jahr, das ist ein Zehntel des Pro-Kopf-Stromverbrauchs in den Industrieländern. Einerseits ist Indien hoch entwickelt und erkundet beispielsweise auch den Mond. Auf der anderen Seite ist das Land auf einem niedrigen Niveau, wenn es darum geht, all diese Wissenschaft und Technologie zum Nutzen aller Menschen in der dortigen Gesellschaft einzusetzen. Die IEC als eine internationale Organisation wird von den Mitgliedern getragen und stellt alle auf dieselbe Plattform. Wie können wir aber die verschiedenen Nuancen von den verschiedenen Mitgliedern einbringen?
tec.news: Und wie gelingt das?
Vimal Mahendru: Wir müssen auch auf die Besonderheiten jedes Landes eingehen. Indien bezieht einen Großteil der Elektrizität aus fossilen Brennstoffen. Gleichzeitig ist Solarenergie im ganzen Land an mehr als 300 Tagen im Jahr verfügbar. Es wäre sinnlos, die Solarenergie zu ignorieren und weiterhin fossile Brennstoffe zu nutzen. Fordert eine Umorientierung auf Solarenergie nun die Errichtung einer großen und zentralen Solarfarm mit Giga-Kapazität? Definitiv nicht. Ich denke, hier liegt die Zukunft in Mikronetzen. Das gilt wiederum nicht für alle Länder. Aber das Beispiel soll einen Eindruck von der Art der Regionalisierung oder sogar Lokalisierung von Lösungen vermitteln.
tec.news: Zurück zur AES: Welche Aktivitäten wurden bei der IEC bereits eingeleitet oder sind in Planung?
Vimal Mahendru: Die IEC hat bereits acht Systemausschüsse eingerichtet. Innerhalb der Organisation sind dies große Gremien mit vielen horizontalen Ideen, die aus verschiedenen Bereichen der Gesellschaft und der Technologie kommen. So gibt es zum Beispiel Systemkomitees für intelligente Energie, intelligente Städte, intelligente Fertigung und nachhaltigen elektrifizierten Verkehr. Das sind sehr breit gefächert Themen. Sie erstrecken sich über mehrere technologische Bereiche, haben aber gemeinsam, dass sie zu einer vollständig elektrischen und vernetzten Gesellschaft beitragen.
tec.news: Und wie wird das Thema Nachhaltigkeit besetzt?
Vimal Mahendru: Was uns in der IEC-Normung fehlt, ist die Frage, wie wir die Nachhaltigkeit auf der Ebene der technischen Komitees berücksichtigen können. Wie sieht es mit der Materialeffizienz aus, die in die von einem technischen Komitee verfassten Normen eingebaut wird? Wie sieht es mit dem CO2-Fußabdruck des Produkts oder Systems aus, das ein technisches Komitee standardisiert. Was ist mit dem CO2-Fußabdruck des Herstellungsprozesses bzw. der Erzeugung des Produkts oder der Dienstleistung und während der Lebensdauer des Produkts oder der Dienstleistung, und wie wird das Produkt dann entsorgt? Der andere Aspekt ist die Energieeffizienz. Die ist insbesondere bei der Entwicklung des Produkts relevant. Sind wir in der Phase der Produktentwicklung effizient?
tec.news: Wie werden dafür internationale Standards geschaffen? Welche konkreten Beispiele können Sie uns nennen?
Vimal Mahendru: Ein konkretes Beispiel findet sich erneut in Indien: Im Jahr 2013 hatten mehr als 320 Millionen Inder keinen Zugang zum Stromnetz. Weltweit waren es sogar 1,5 Milliarden Menschen. Damals wollte der indische Premierminister das Land schnell elektrifizieren. Die Herausforderung lag in der zu schaffenden Infrastruktur mit Kraftwerken, Übertragungsleitungen, Umspannwerken, Brennstoffleitungen usw. Ich leitete damals den indischen Industrieverband für elektrotechnische und elektronische Fertigung und habe die IEC um Unterstützung gebeten. Das war schließlich die Geburtsstunde eines Komitees, das ich leiten durfte. An der Arbeit waren später etwa 30 verschiedene nationale Ausschüsse und etwa 50 Experten beteiligt. 2022 hat die IEC schließlich einen Standard für den Zugang zu Elektrizität über DC-Kleinnetze veröffentlicht.
tec.news: Und der Standard hilft nicht nur in Indien?
Vimal Mahendru: Er hat es auch vielen afrikanischen und asiatischen Ländern ermöglicht, Haushalte an das Stromnetz anzuschließen. Die Lösung ist sehr einfach. Es ist ein Systemstandard. Wenn man von einer elektrischen und vernetzten Gesellschaft spricht, dann geht es im Kern darum, die Menschen, die noch nicht einmal im Bewusstsein der entwickelten Volkswirtschaften sind, in eine elektrifizierte Welt zu bringen.