Der richtige Zeitpunkt für den Digital Twin ist JETZT!
tec.news: Wie ist Ihre Definition eines Digitalen Zwillings im Kontext einer industriellen Umgebung?
Dr. K. D. Bettenhausen: Ich sehe den Digital Twin als das digitale Abbild eines real existierenden Assets – egal, ob groß oder klein. Und das nicht nur während der Planungsphase, sondern über den gesamten Lebenszyklus hinweg.
tec.news: Wohin wird sich der Digital Twin Ihrer Meinung nach entwickeln?
Dr. K. D. Bettenhausen: Ich denke, hier ist es so wie beim automatisierten Fahren, bei dem wir in fünf verschiedenen Stufen unterscheiden: Angefangen bei simplen Assistenzsystemen bis hin zu dem, was wir als autonom bezeichnen. An dieser Stelle sehe ich die Parallelen zum digitalen Zwilling, beginnend mit Zeichnungen – zunächst in der einfachsten Variante einfach nur digital erstellt, quasi wie ein PDF Dokument von irgendetwas. In der höchsten Ausprägung ist der Digital Twin mit dem realen Asset permanent verbunden und erhält verschiedene Sensorinformationen, so dass sich beispielsweise der Alterungs- und Verschleißprozess komplett erfassen lässt und ein Fachmann anhand des digitalen Abbilds immer genau weiß, wie das reale Objekt aussieht. Zusätzlich können dann zustandsabhängig auch Funktionen des realen Objekts durch eine Aktuatorik beeinflusst werden.
tec.news: Was hat der Digital Twin als technologischer Megatrend mit den entsprechenden gesellschaftlichen Megatrends zu tun?
Dr. K. D. Bettenhausen: Mit dem Thema Nachhaltigkeit ist an dieser Stelle klar der Aspekt des „Product Carbon Footprints“ (PCF) verbunden. Bereits während des Entstehungsprozesses eines Produkts kann beispielsweise eine vollständige Transparenz über den PCF der verwendeten Materialien hergestellt werden. Ebenso ist es möglich, eine punktgenaue Auskunft über eine entsprechend effiziente Verwendung des Produkts zu treffen. Der Kreis schließt sich schließlich mit dem „End of Life“: Um Produkte wiederzuverwenden, müssen sie in Stoffeinheiten getrennt werden. Wenn diese Trennung für den Entsorger nicht geklärt ist, wird die Wiederverwendung schwierig. Ein von Anfang an mitgelieferter Digital Twin gibt Auskunft über die Bestandteile eines Produkts. Diese können dann sortenrein getrennt und dem Stoffkreislauf zugeführt werden. In diesem Zusammenhang ist der ZVEI Produktpass bereits ein Vorreiter. Hier hat der Verband der Elektro- und Digitalindustrie bereits ein Positionspapier veröffentlicht.
tec.news: Ist der Digital Twin auch im Kontext von Globalisierung/Deglobalisierung relevant?
Dr. K. D. Bettenhausen: Hier spreche ich immer von dem „atmenden Netz“. Ich brauche überall das gleiche Modell, damit ich Produkte überall fertigen kann, damit ich in der Lage bin, sie dort zu erzeugen, wo ich sie brauche. Unter Umständen auch im Zusammenhang von „Production on Demand“ – ich erzeuge es also auch erst dann, wenn es gebraucht wird. Wir brauchen digitale Zwillinge für kürzere Wertschöpfungsketten und krempeln so die Supply Chain komplett um.
tec.news: Wie äußert sich dieser Bezug zu den Megatrends in den entsprechenden HARTING Lösungen?
Dr. K. D. Bettenhausen: Unsere Produkte finden Einsatz in unterschiedlichen Branchen und Märkten. Sie sind in Umgebungen anzutreffen, in denen die Ausfallwahrscheinlichkeit möglichst gering sein muss und wo hochwertige oder sicherheitskritische Prozesse ablaufen. Daraus ergibt sich für HARTING folgende Dreiteilung:
- Wir sind Nutzer von digitalen Zwillingen. Indem wir Connectivity produzieren und nutzen, schaffen wir mit digitalen Zwillingen die Grundlage dafür, unsere Produkte zu realisieren. Das heißt konkret: Wir nutzen den digitalen Zwilling, sowohl bei unseren Produkten als auch bei unseren Produktionsanlagen, die wiederum über einen Digital Twin verfügen. Darüber hinaus basieren die Produkte, die wir produzieren, auf weiteren Bauteilen, die wir ebenfalls als Digital Twin mit in diese Produktion einbinden.
- Wir sind Erzeuger und Bereitsteller von digitalen Zwillingen. Wir statten unsere Produkte mit digitalen Zwillingen aus, bilden unsere Produkte dabei vollständig digital ab und lassen sie digital entstehen. Wir entwickeln diese permanent weiter, um zukünftig Lifecycle Service Möglichkeiten vollständig ausschöpfen zu können.
- Dadurch sind wir schließlich „Enabler“ digitaler Zwillinge. Der Digital Twin in unseren Produkten generiert sinnvollen Nutzen für unseren Kunden. Unsere Connectivity ermöglicht es, durch die Integration in eine Anlage, Services anzubieten, die im Rahmen des Lebenszyklus eine bedeutende Rolle spielen. Der digitale Zwilling kann – etwa über Augmented Reality – eine Verbindung zwischen Anwender und Anlage schaffen, beispielsweise wenn es um den Austausch von Komponenten geht. Schließlich unterstützen wir unsere Kunden darüber hinaus bei der Nutzung des digitalen Zwillings.
tec.news: Welchen Zusammenhang sehen Sie als DKE Präsident hinsichtlich der Normung?
Dr. K. D. Bettenhausen: Digitale Zwillinge können nur dann ihren Nutzen entfalten, wenn sie von allen einheitlich genutzt werden können und von allen überall bereitgestellt werden. Proprietäre Formate ergeben daher keinen Sinn. Damit das weltweit funktionieren kann, ist eine semantische Beschreibung notwendig, die von allen akzeptiert wird und im Bereich der Normierung ein hinreichendes Maß an Interoperabilität sicherstellt. Je mehr wir einen digitalen Zwilling mit Informationen aufladen, umso mehr wird er sich von reinen Zeichnungsdaten und elektrischen Anschlussdaten hin zu kompletten Simulationsmodellen entwickeln. Dafür bietet sich heute das an, was im Rahmen der IDTA als Grundlage der weiterführenden Arbeiten bei der IEC entsteht: ein Format, das einerseits von allen gleichmäßig bereitgestellt werden muss, und andererseits dafür auch von allen genutzt werden kann. Es ist wichtig, dass Guidelines, Regeln und Strukturen für einen Digital Twin im Rahmen der Verwaltungsschale festgelegt werden. Proprietäre Standards können da nur kurzfristige Vorteile liefern. Sie sorgen dann dafür, dass Akzeptanz und Einsatz dieser Technologie verzögert wird. Wir müssen mit einem allgemeingültigen, für alle verwendbaren, für alle einsetzbaren Austauschformat arbeiten, da sonst der Nutzen ausbleibt.
tec.news: Wo liegt Ihrer Meinung nach der Nutzen für den Anwender?
Dr. K. D. Bettenhausen: Wir reden an dieser Stelle über Connectivity und können daher konkret 5 eindeutige Nutzen identifizieren:
- die einfache Auswahl der passenden Komponenten
- der Aufbau von Geräten inkl. der Simulation und Evaluierung von entsprechenden Eigenschaften
- die einfache Integration in Maschinen und Anlagen
- eine hohe Transparenz auch in Verbindung mit Nachhaltigkeit (PCF)
- das Enabling von Lifecycle Services z.B. für die einfache Instandhaltung
Einzelne Aspekte greifen wir an konkreten Beispielen in dieser tec.news auf. Wir sind der festen Überzeugung, dass genau JETZT der richtige Zeitpunkt für den Digital Twin gekommen ist. Heute stehen Technologien und Standards zur Verfügung. Außerdem sind die Anforderungen gegeben: Nachhaltigkeit und Resilienz erfordern, dass wir unsere Wertschöpfungsketten viel transparenter müssen. Und schließlich benötigen wir autonome Prozesse – sowohl bei der Entwicklung als auch beim Betrieb – um etwa den Menschen zu entlasten und einen Fachkräftemangel zu kompensieren. Dies alles sind maßgebliche Faktoren, die erst der Digital Twin als wesentlichem Enabler ermöglicht.