Notwendige Voraussetzung für Nachhaltigkeit: der Digitale Zwilling
Gesellschaftliche Megatrends sind die Treiber technologischer Trends. Mit Connectivity+ greift die HARTING Technologiegruppe diese auf und setzt die Unternehmensvision – „Wir wollen die Zukunft mit Technologien für Menschen gestalten“ – in konkrete Produkte und Applikationen um. Mit Blick auf diese unterschiedlichen Ebenen stellt sich die Frage: Was haben Nachhaltigkeit bzw. die dafür zukünftigen technischen Lösungen und der Digitale Zwilling miteinander zu tun?
Für die HARTING Technologiegruppe ist der Digitale Zwilling ein ganzheitliches Konzept und ermöglicht die komplette Abbildung und Transparenz eines realen Assets im Gesamtlebenszyklus – von dessen Geburt, über eine erneuerbare Wertschöpfung (Kreislaufwirtschaft, “Cradle to Cradle”) bis hin zu dessen etwaiger “energetischer Verwertung” („Cradle to Grave“).
Erst durch einen Digitalen Zwilling ist es im Rahmen der Digitalisierung so möglich Informationen zur Nachhaltigkeit eines Assets zu ermitteln. Jedoch nicht, weil ein Digitaler Zwilling ein Asset nachhaltiger macht, sondern: Er schafft überhaupt erst die Möglichkeit, Informationen über Komponenten/Materialien und dessen Eigenschaften transparent aufzuführen, zu verknüpfen, und somit letztlich Prozesse zu optimieren und nachweisbare Verbesserung herbeizuführen.
Betrachtung man beispielsweise die Bestimmung des CO2-Fußabdrucks (Product Carbon Footprints (PCF)/Carbon Footprint of Products (CFP)): Dieser ist nicht direkt aus dem Asset selbst ersichtlich und kann erst durch eine Digitalen Zwilling mit dem realen Asset in einen Zusammenhang gebracht werden. Durch den Digitalen Zwilling erhält der Anwender Einblicke in die verschiedenen Produkt-Lebenszyklusphasen (Entwicklungsprozess, Supply Chain und Produktion, Logistik, Verwendung, Wartung/Reparatur…), als auch die verwendeten Komponenten und Materialien, und kann erst dann eine sinnvolle Aussage auf die Frage treffen: Ist das Produkt nachhaltig oder nicht?
Dies bedeutet: Nur durch den Digitalen Zwilling ist Nachhaltigkeit also erst nachhaltig umsetzbar.
Wichtig an dieser Stelle: Ökologische Nachhaltigkeit geht deutlich über die alleinige Verifizierung des CO2-Fußabdrucks hinaus! Die Digitalisierung – im Hinblick auf die Abbildung eines Digitalen Zwillings – muss breiter angewendet werden. Insbesondere dann, wenn Fragen der Kreislaufwirtschaft eine Rolle spielen (10Rs):
Refuse: Wie kann bereits während des Designs eines Produktes auf die Verwendung gesundheitsgefährdende Stoffe verzichtet werden?
Rethink: Kann ein Produkt bspw. vermietet anstatt verkauft werden?
Reduce: Wie lässt sich ein Produkt mit einem möglichst geringeren Verbrauch an natürlichen Ressourcen und Materialien produzieren?
Reuse: Wie lässt sich ein Produkt wiederverwenden?
Repair: Wie kann die Reparierfähigkeit eines Produktes erhöht werden? Wie lässt sich ein Produkt reparieren?
Refurbish: Wie können einzelnen Komponenten eines Produktes ersetzt werden?
Remanufacture: Wie können Komponenten eines alten Produktes in die Fertigung eines neuen Produktes einfließen?
Repurpose: Wie kann ein Produkt für einen anderen Zweck weiterverwendet werden?
Recycle: Wie können Materialien/Komponenten eines Produktes recycelt werden?
Recover: Wie können im Produkt verwendete Rohstoffe zurückgewonnen werden?
Der am 30. März 2022 seitens Europäischer Kommission veröffentliche Vorschlag für ein neues Ökodesign nachhaltiger Produkte (Ecodesign for Sustainable Products Regulation, ESPR) liegt dem European Green Deal und dem “Circular Economy Action Plan” der Europäischen Union zugrunde und sieht die Einführung eines sogenannten Digitalen Produktpasses (Digital Product Passport, DPP) vor. Dieser dient dabei als Informationssammlung über ein Produkt sowie dessen Wertschöpfungskette. Der standardisierte Austausch eben jener Daten und Informationen über den gesamten Produkt-Lebenszyklus hinweg ist dabei das Schlüsselelement des DPP. Durch ihn soll es möglich sein, u.a. folgende Fragen – für diverse Stakeholder, wie Kunde, Reparateur, Recycler usw. - über den gesamten Produkt-Lebenszyklus hinweg beantworten:
- Produkt Identifikation: Um welches Produkt handelt es sich? Welche Identifikatoren (bspw. Artikelnummer, Zolltarifnummer usw.) besitzt es?
- Hersteller Identifikation: Wer hat das Produkt wo zu welchem Zeitpunkt produziert?
- Material Informationen: Aus welchen Materialien (Inhaltsstoffe, Recyclatanteile, seltene Erden, …) und Komponenten ist das Produkt zusammengesetzt?
- Technische Daten: Welche Eigenschaften besitzt das Produkt?
- Konformitätserklärungen und Kennzeichnungen: EU-Konformitätserklärung, Kennzeichnungen (CE, WEEE, ATEX, …)
- Langlebigkeit: Wie ist das Produkt durch welche Ersatzteile (Verfügbarkeit, Lieferzeit) unter Zuhilfenahme welcher Werkzeuge zu reparieren (Reparaturindex)? Wie hoch ist die erwartete Lebensdauer (Mean Time to Failure MTTF, Mean Time between Failure MTBF) bzw. die Haltbarkeit/Widerstandsfähigkeit gegenüber äußeren Einflüssen wie mechanische Belastungen oder Alterungsprozessen?
- Wiederverwertbarkeit: Kann das Produkt in seine verschiedenen Komponenten und Materialien getrennt werden?
- Energie und Ressourcen: Welche Umweltauswirkungen (Umwelt-Fußabdrücke (CO2, H2O, NOx), Energieverbrauch) hat das Produkt? Wie wurden dessen Rohstoffe gewonnen (Umwelteinflüsse bei der Gewinnung/Abbau, aber auch Unternehmerische Sozialverantwortung, z.B.: Kinderarbeit)
- Nutzung: Wie wird das Produkt (optimal/effizient) verwendet? (Gebrauchsanweisung)
- EOL: Wie wird das Produkt demontiert? Wie wird es am Ende der Lebensdauer behandelt? Welche Materialien/Komponenten müssen wie dem Abfall zugeführt werden?
- Recyclingfähigkeit: Kann das Produkt bzw. dessen Komponenten/Teile recycelt werden?
Typ/Instanz:
Sowohl im Rahmen eines Digitalen Zwillings (Asset Administration Shell) als auch im Sinne des Digitalen Produktpasses wird zwischen sogenannten Typ- und Instanzdaten unterschieden.
Während bei der Entwicklung eines Produkts die Typdaten definiert und spezifiziert werden, steht nach dessen erfolgreicher Erprobung und Freigabe in der Produktion die Erhebung der Instanzdaten im Vordergrund. Der Digitale Zwilling eines jeden Produkts besteht somit sowohl aus produktübergreifenden Typdaten als auch produktindividuellen Instanzdaten.
Für die HARTING Technologiegruppe stellt der Digitale Produktpass den nächsten Konkretisierungsschritt des Digitalen Zwillings dar. Ziel ist, den Digitalen Zwilling mit den vollständigen Daten jeglicher Bestandteile eines Produkts anzureichern und rückverfolgbar zu machen. Der Digitale Zwilling dient somit als Datenquelle für den Digitalen Produktpass und ist sowohl auf der Kunden- bzw. Entscheiderebene und der Supplier-Ebene relevant, denn: Die transparenten Merkmale eines Produkts sind entscheidend für den Auswahlprozess im Sinne der erwünschten Nachhaltigkeit. Der Digitale Zwilling bzw. Digitale Produktpass kann nur zu einer gesteigerten ökologischen Nachhaltigkeit führen, wenn er flächendeckend verbreitet und universell genutzt wird. Im Mittel zur Wahl sieht die HARTING Technologiegruppe hier die Asset Administration Shell, definiert und spezifiziert durch die Industrial Digital Twin Association (IDTA) und standardisiert im Rahmen der internationalen Normung (IEC). Solche einheitlich gelebten Standards sind das starke Rückgrat für eine zielführende Umsetzung der Nachhaltigkeit.
Die HARTING Technologiegruppe wird zur SPS 2023, nachdem bereits zur HM 2023 ca. 18.000 Produkte mit einem Digitalen Zwilling (Asset Administration Shell auf Typ-Ebene) ausgestattet wurden, exemplarisch für ausgewählte Teile des Produktportfolios einen Digitalen Produktpass auf Basis eines Digitalen Zwillings (Asset Administration Shell auf Instanz-Ebene) präsentieren.
Dabei muss abgewogen werden. Bauteile wie Steckverbinder, die passiv in wiederum intelligente Geräte verbaut werden, werden nicht generell als Instanz erscheinen. Hier reicht es vollkommen, wenn der Typ angelegt ist und somit in den Digitalen Zwilling des Gerätes, der in der Regel als Instanz fungiert integriert wird. Anders sieht es bei Steckverbindern aus, die als hochkomplexe Installationskomponenten oder Infrastrukturkomponenten eingesetzt werden. Diese werden zusätzlich definitiv zur Instanz. Beispielsweise der SmEC (Smart Electric Connector, s. auch tec.news Ausgabe 44), der auch im DKE-Standardisierungsentwurf bereits als Instanz definiert wurde. Allein die Tatsache, dass der SmEC in der Anwendung Daten generiert, die im Rahmen der Produktionsanlage zur Steigerung der Energieeffizienz genutzt werden können, erfordert, dass der SmEC zur Instanz wird, denn Produkt-Serviceleistungen sind immer an eine eineindeutige Identifizierung des Produktes und damit an eine aktive Verwaltungsschale desselben geknüpft.